Fass
31. Okt 2025,

Ist das zu fassen? Das Fass ist uralt. Der oder die Erfinder dieses runden Wunders gehen bis in die Antike zurück – die Hersteller waren Kelten. Unfassbar.
Erfrischend ist die Begründung, weshalb man überhaupt auf die Idee kam, ein Fass zu erfinden:
Die Leute damals wollten schlicht und einfach Wein und Bier lagern, bevor die Nächte kalt, schwarz und atemlos wurden.
Welch geniale Bieridee!
Damals wussten die Menschen – auch die fassbaren Erfinder – ja noch gar nicht, dass sie später als „Antike“ bezeichnet würden.
„Ey, Alter, bischte antiik?“
Dieses schlichte, runde Gefäss namens Fass hat sich über Jahrtausende bewährt.
Ja, Jahrtausende, denn es gibt Hinweise, dass das Fass schon 3.500 Jahre vor dem Auftauchen dieses Typen namens Christus existierte.
Damals war es noch aus Ton – also das Fass - denn, wie man so schön sagen könnte: C’est le ton qui fait l’antique.
Heute wirkt ein Eichenfass fast schon elegant, mit einem Hauch angehängtem Edeltum.
Bevor das gute Bier ausläuft, bekommt es einen Hahn in den Deckel gehämmert –
damit das Gebraute in die Mass gespült werden kann.
Eine Mass ist übrigens eine Masseinheit. Für Bier, vermute ich mal.
Doch das Fass hatte auch andere Aufgaben:
Es wurde mit allem Möglichen gefüllt – Mehl, Essig, Olivenöl, Regenwasser –
und half der Menschheit, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu stillen.
Erstaunlich, was so ein schlichter Zylinder aus Holz oder Ton über die Jahrtausende an Bedeutung gewinnen konnte.
Eichenholz hat dazu eine besondere Eigenschaft: Es ist leicht porös, lässt den Inhalt atmen.
Und wie wir inzwischen wissen – Atmen ist ganz hilfreich, um den Tag oder wenigstens die ersten zwei Minuten nach der atemlosen Nacht zu überleben.
Was mich immer wieder beschäftigt, ist die schwangere Bedeutung, wenn das Fass auf diesen einen Tropfen trifft.
Ein Fass kann unglaublich viel aufnehmen – bis es randvoll und schwer ist.
Es erfüllt seine Aufgabe in nahezu perfekter Ausführung.
Am Ende kommt der Deckel drauf.
Handwerklich einwandfrei, wirtschaftlich solide.
Aber dann…
kommt er.
Der kleine, unscheinbare Tropfen.
Dieser klitzekleine, hinterhältige Tropf, der Schlimmes im Schilde führt.
Sobald dieser ungebetene Gast ins randvolle Fass fällt, beginnt eine Kettenreaktion.
Die Menge im Inneren kann den Tropfen zuerst kaum, dann überhaupt nicht mehr fassen.
Er drängt sich hinein wie der späte Passagier, der sich noch schnell in den schliessenden Lift zwängt.
Dann wird es eng.
Und dem Fass wird’s nicht nur zu eng, sondern zu bunt: es läuft über.
Das Überlaufen ist in keiner Situation beliebt:
Wenn Milch überläuft, wenn Soldaten überlaufen, oder wenn aufgestaute Wut überläuft –
es endet fast immer chaotisch, klebrig oder schmutzig.
„Das ist nicht zu fassen!“ – dieser Satz markiert den Beginn jeder Überreaktion.
Wenn etwas oder jemand zu viel ertragen muss,
dann beginnt sich etwas zu bewegen – langsam, aber unaufhaltsam.
„Raus aus dem Fass!“ scheint dann das Motto zu sein.
Ja, ich fühle mich oft wie ein Fass (metaphorisch gesprochen, OK?),
wenn ich morgens die Nachrichten lese.
Ich versuche, all das zu fassen, zu verstehen und zu verarbeiten –
ohne dabei die Fassung zu verlieren.
Oft gelingt es.
Manchmal aber läuft das Fass einfach über – ungefragt, unaufhaltsam.
Hey du, gesunder Menschenverstand: Fass!
